Politik und Musik - von und mit Stephan Eisel

Die Wurzeln der Musikzensur

„Die Riten lenken die Gefühle des Volkes in
richtige Bahnen; die Musik stellt im Lande
Einklang her; die Regierung ordnet das
Verhalten, und die Strafen verhüten das
Verbrechen. Wenn also die Riten, die Musik,
die Strafen und die Regierung alle in
Ordnung sind, sind die Grundsätze der
Gesellschaftsordnung erfüllt.“
Konfuzius (nach Yotschi Liki)

Es ist verblüffend, wie ähnlich die Rolle der Musik schon im Altertum in ganz unterschiedlichen Kulturkreisen gesehen wurde. Damon etwa, einem Freund des Perikles, wird bei Platon die These zugeschrieben: „Man muss die Gesetze der Musik hüten, sonst rüttelt man am Ganzen. Nirgends rüttelt man an den Grenzen der Musik, ohne an die wichtigsten politischen Gesetze zu rühren.“ In seiner Abhandlung Der Staat lässt er Sokrates über ein Gespräch mit Glaukon berichten, in dem es um die Rolle der Musik im neu zu schaffenden Staat geht. Dort heißt es unter anderem: „Niemals werden die Tonarten geändert, ohne dass die wichtigsten staatlichen Gesetze in Mitleidenschaft gezogen werden.“ Ganz im Gleichklang damit meinte Konfuzius: „Wollt Ihr wissen, ob ein Land wohl regiert und gut gesittet sei, so hört seine Musik…Wenn die Welt chaotisch wird, werden das Zeremoniell und die Musik zügellos.“

Solche Übereinstimmung deutet auf eine der wichtigsten Ursachen der Musikzensur, deren Geschichte so unendlich lang ist: Weil die Wirkungen von Musik auf die Menschen zwar sehr wohl erkennbar und erfahrbar, aber eben kaum erklärbar waren und sind, überschätzte die Politik diese oft und wollte sie unter Kontrolle halten. Es verwundert deshalb wenig, dass schon von der Regierung des chinesischen Kaisers Wu (140-87 v. Chr.) ein kaiserliches Musikamt zur Überwachung der Musikübungen geschaffen wurde, ebenso übrigens im 9. Jahrhundert im kaiserlichen Japan.

Im europäischen Kulturkreis war es zuerst Platon, der Musik nicht einfach Musik sein ließ, sondern Tonarten nach ihrem möglichen politischen Nutzen, insbesondere bei der Erziehung, bewertete. „Schlaffe“ Musik, die sich für Trinkgelage eignen mag, aber nicht für die Erziehung kriegerischer Männer – bei Platon die ionische und lydische Tonart – lehnte er mit dem Hinweis ab, sie trage zur Verweichlichung bei. In einem Staat nach seinen Wünschen sollte er nur das Phrygische zulassen und die „kriegerische“ Tonart des Dorischen.

Platon lässt dies den musikunkundigen Sokrates mit folgendem Gedanken begründen: „…lass mir diejenige Tonart, die in angemessener Weise die Lautfärbung und Betonung eines Mannes nachahmen würde, der in kriegerischem Handeln und überhaupt gewaltsamer Tätigkeit begriffen ist und – vom Glücke im Stich gelassen, in Wunden oder in den Tod gehend oder in irgendein anderes Missgeschick geraten – in allen diesen Lagen wohlgerüstet und standhaft gegen das Schicksal sich zur Wehr setzt; und daneben eine für einen Mann, der in friedlicher und nicht gewaltsamer, sondern zwangloser Tätigkeit begriffen ist und … besonnen und mit Mäßigung in allen diesen Lagen verfährt und mit dem, was kommt, zufrieden ist. Diese zwei Tonarten, die gewaltsame und die zwanglose, die die Lautfärbung der vom Unglück Verfolgten und der vom Glück Begünstigten, der Besonnenen und der Mannhaften am schönsten nachahmen werden, – diese lass übrig.“

Noch rigoroser war übrigens überraschenderweise Aristoteles, der eigentlich als Antipode zu Platon die Notwendigkeit von Freiheit und Vielfalt begründete. Er lehnte auch das Phyrgische ab, weil es zu pathetisch sei. Eliminiert werden sollten nach Platons Meinung, der Saiteninstrumente prinzipiell für eher „staatspolitisch brauchbar“ hielt, übrigens auch vielharmonische Instrumente, wie Harfen, Zimbeln und auch die „weiche“ Flöte.

Die politische Einordnung der Musik mischte sich später mit dem Einfluss des Christentums, das Musik allein in Hinsicht auf ihr Verhältnis zu Gottesdienst und Gebet wertete. So warnte schon Augustinus vor zu schöner Musik, die von Andacht und gottesfürchtiger Buße ablenken könnte. Im Gregorianischen Choral war später Instrumentalbegleitung ebenso verboten wie Frauengesang, da beides als Symbol von Sinnlichkeit galt. Diese Regel wurde noch 650 von einem Konzil bekräftigt. Im 12. Jahrhundert wurde der berühmte Minnesänger Tannhäuser wegen seiner angeblich allzu weltlichen Kunst gar mit einem päpstlichen Bann belegt. Aus ähnlichem Grund widersetzte sich um 1678 die Hamburger Geistlichkeit energisch, wenngleich erfolglos, der Eröffnung eines Opernhauses.

Selbst Johann Sebastian Bach musste als junger Organist Ermahnungen seiner Kirchenoberen über sich ergehen lassen. Als er von einem mehrmonatigen Studienaufenthalt bei Dietrich Buxtehude in Lübeck an seine Organisationsstelle in Arnstadt zurückkehrte, hatte sich sein Orgelspiel allzu sehr gewandelt. Der zuständige Superintendent Orearius stellte Bach deshalb 1706 zur Rede. In den kirchlichen Akten heißt es: „Halthen Ihm vor, dass er bisher in dem Choral viele wunderlichen variationes gemachet, viele fremde Thone mit eingemischet, dass die Gemeinde darüber confundiret worden. Er habe ins künfftige wan er ja einen tonum peregrinum mit einbringen wollte, selbigen auch auszuhalten, und nicht gar zu geschwinde auf etwa anderes zu fallen, oder wie er bißher im Brauch gehabt, gar einem Tonum contrarium zu spiehlen.“ Als Bach nicht zuletzt wegen solcher Maßregelungen 1707 nach Mühlhausen wechseltet, geriet er dort unversehens in einen ähnlichen Konflikt: Nach Meinung der pietistischen Gemeindemitglieder durfte Musik im Gottesdienst nicht ablenken, die Orthodoxen hingegen schrieben der Musik eine wichtige Rolle im Gottesdienst zu.

Auch Bachs Sohn Bernhard, dem der Vater 1735 jene Organisationsstelle in Mühlhausen vermittelte, musste ähnliche Erfahrungen machen. Zu seinem Orgelspiel meinte ein Ratsherr: „Wenn H. Bach die Orgel so fest spielt, so ist sie in zwei Jahren hingerichtet, oder die meisten Kirchengänger müssen taub werden.“ Ein anderer kritisierte, „dass H. Bach jun. bisher allzu viel und allzu lange präludirt, mithin dadurch die zur Andacht und Gottesdienst bestimmte zeit über die Gebühr verkürzt…sich um die hiesigen Gesänge und deren schöne Melodien schlecht bekümmert, und daher mit Orgelschlagen die singende Gemeinde oft nur verwirret.“

Antonie Vivaldi erging es im katholischen Bereich wenig anders. Er war aus Gründen der sozialen Absicherung Priester geworden. 1737 jedoch verbot die päpstliche Nuntiatur in Ferrara Aufführungen seiner Opern mit der Begründung, Vivaldi habe sich als Priester zu sehr weltlichen Dingen zugewandt.

Zwar suchten viele Künstler dem starken Einfluss der Kirche auf ihre Musik zu entrinnen, zwar kam es zur Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Musik, aber die Tatsache des Verbots bestimmter Musik im kirchlichen Raum kann nicht losgelöst werden von der Geschichte der Musikzensur. Eine teilweise unrühmliche Rolle im deutschen Sprachgebiet spielte in diesem Zusammenhang beispielsweise der Cäcilienverein, der durch Approbation Papst Pius´ IX. 1870 zur kirchenamtlichen Organisation erhoben wurde. Der Verein suchte zu jener Zeit „echte kirchliche Kunst“ seines Generalpräses Franz Xaver Witt über die Werke Palestrinas und des Gregorianischen Chorals zu stellen und gegen angeblich „heidnische“ Messen Mozarts und Haydns auszuspielen. Dies hatte einige Zeit lang erhebliche Konsequenzen, da der Cäcilienverein, quasi offiziös die seiner Ansicht nach für den Gebrauch im Gottesdienst geeigneten Kompositionen registrierte. Von der an sich legitimen Kanonisierung des Gemeindegesangs in kirchlichen Gesangsbüchern war es eben nur ein kleiner Schritt zur Verurteilung dessen, was nicht Eingang in solche Liedsammlungen fand.

1903 erließ Papst Pius X. ein kirchenmusikalisches Gesetzbuch, das festlegte, Kompositionen seien um so „heiliger“, je ähnlicher sie der Gregorianik seien. Weitere Verlautbarungen des Vatikans suchten in immer kürzeren Abständen die Kirchenmusik zu regulieren, bis hin zu jener Instruktion der Ritenkongregation über Kirchenmusik und Liturgie, die im Jahr 1958 genehme Kirchenmusik in 118 Paragraphen definieren wollte. Auch wenn solche Entwicklungen spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gestoppt wurden und seitdem eine spürbare Liberalisierung eingetreten ist, sind die erwähnten historischen Vorgänge nicht ganz unschuldig daran, dass noch heute katholische Kirchenmusik weit häufiger im Konzertsaal zur Aufführung kommt als im Gottesdienst.

Wie weit kirchlicher Einfluss auch in das weltliche Musikleben reichen konnte, zeigt die Tatsache, dass der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer noch 1926 auf Antrag der katholischen Zentrumsfraktion im Stadtrat Béla Bartóks Ballett Der wunderbare Mandarin (1919) nach der zweiten Aufführung vom Spielplan absetzte, weil es teilweise im Prostituiertenmilieu spielt.

Eine andere Wurzel der Musikzensur findet sich in dem schon erwähnten auffälligen Gleichklang zwischen der Hochschätzung des Harmoniebegriffs in der politischen Ideengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit und in der Musiktheorie jener Zeit. Je mehr dabei vom Ideal der Harmonie geschwärmt wurde, umso näher lag die Rechtfertigung der Ausschaltung des als disharmonisch Empfundenen. Politische Abweichung wie unliebsame Musik waren davon letztlich gleichermaßen betroffen, wobei Musiker meist den zusätzlichen Nachteil des kaum anerkannten sozialen Status hatten. Noch im Jahre 1410 beispielsweise verbot der Stadtrat von Basel ihnen das Tragen von Hosen, die echten Bürgern vorbehalten bleiben sollten.

Was harmonisch war und somit geduldet, hing oft vom Geschmack des Herrschers ab – eine Tatsache, die die Musikgeschichte nicht wenig beeinflusste. Claudio Monteverdi (1567 – 1643) beispielsweise musste 1612 Mantua verlassen, weil nach dem Tod des Herzogs Vincenzo Gonzaga dessen Sohn und Nachfolger die gerade aufblühende Gattung der Oper, die Monteverdi mitbegründet hatte, nicht schätzte. Als in Frankreich 1643 auf Kardinal Richelieu der aus Italien stammende Musikliebhaber Jules Mazarin folgte, nahme andererseits die italienische Oper am Hof in Paris einen großen Aufschwung. Im 17. und 18. Jahrhundert legte der französische König übrigens sogar durch ein eigenes Dekret fest, dass die französische Oper ein Ballett beinhalten müsse.

In Paris spaltete der Streit um die angemessene Musik Mitte des 18. Jahrhunderts sogar den königlichen Hof. Ausgelöst durch eine Aufführung der Oper La serva padrona von Giovanni Battista Pergolesi, kam es zum Streit zwischen den Anhängern der italienischen opera buffa und den Atni-Buffonisten, die die steife französische Operntradition verteidigten. Die erste Fraktion wurde eingeführt von der Königin, den Philosophen Rousseau und Diderot sowie dem Mozartförderer Baron Grimm. Die andere Gruppe hatte die Gunst des Königs, der die opera buffa für antimonarchisch hielt. 1754 wurde zwar die italienische Operntruppe aus Paris vertrieben, aber Rousseau hatte mit seinem Singspiel Le devin du village schon 1752 eine französische Form der opera buffa vorgelegt. Paradoxerweise wurde sie von Ludwig XV. bei der Uraufführung im königlichen Schloss von Fontainebleau bejubelt. Rousseau freilich lehnte es ab, vom begeisterten König zur Audienz empfangen zu werden.

In Wien befahl Kaiser Joseph II. – dem der junge Beethoven seine Josephskantate gewidmet hat – ausdrücklich die Aufführung deutscher Singspiele, die sich auch erst daraufhin durchsetzten, insbesondere mit Die Bergknappen von Ignaz Umlauff und Doktor und Apotheker von Karl Ditters von Dittersdorf. In diesen ersten deutschen Singspielen – verwiesen sei hier auch auf die Werke von Johann Georg Standfuß oder Johann Adam Hiller – wurde der soziale Gegensatz zwischen einfachem Volk – deutsche Lieder singend – und Angehörigen des vornehmen Standes – italienische Arietten singend – zur dramaturgischen Achse.

Herrschergeschmack bestimmte jedoch nicht nur den Erfolg bestimmter musikalischer Richtungen, sondern beeinflusste auch das Leben großer Komponisten, die von ihren Fürsten nicht selten als persönliches Eigentum betrachtet wurden. So hatte Johann Sebastian Bach erfahren müssen, wie vereinnahmend die Zuneigung eines weltlichen Herrschers sein konnte, als er 1717 von Weimar nach Köthen wechseln wollte. Der Weimarer Herzog Wilhelm Ernst versuchte den Weggang zu verhindern und setzte Bach kurzerhand in Arrest. In den Hofakten ist der Vorgang in dürren Worten festgehalten: „eod. d. 6. Nov., ist der bisherige Concert-Meister u. Hof-Organist, Bach, wegen seiner Halßstarrigen Bezeügung v. zu erzwingender dimission, auf der Landrichterstube arretiert, u. endlich d. 2. Dec. Darauf, mit angezeigter Ungnade, Ihme die dimission durch den Hof-Secr.: engedeutet u. zugleich des arrests befreyet worde.“ Bach nutzte die erzwungene Pause zur Arbeit an seinem Orgelbüchlein. Aber noch 1739 sorgte die Zensur dafür, dass er in der Liste der Weimarer Hofkomponisten einfach ausgelassen wurde.